Es ist ein Albtraum. Seit fünf Wochen herrscht Krieg. Mitten in Europa. Ein brutaler Angriffskrieg der russischen Staatsführung, ein Vernichtungskrieg gegen ein demokratisches Land, eine gezielte Zerstörung ganzer Städte, tägliche Bombenangriffe auf Wohngebiete, Krankenhäuser, Altenheime und Kindergärten. Was können wir tun, um diesem Schrecken ein Ende zu bereiten?“

Wir müssen uns zunächst eingestehen, dass wir uns geirrt haben. Spätestens seit dem Einmarsch in die Ostukraine und der Annexion der Krim vor acht Jahren hätte uns allen, parteiübergreifend, klar sein müssen, was in diesem Land geschieht. Putins Rhetorik und die seines Machtapparates waren von Anfang an eindeutig und ohne jeden Interpretationsspielraum. Die Verträge von Minsk waren in russischer Lesart Makulatur vom ersten Tag an, allenfalls Atempause für weitere Truppenaufmärsche. Zu keinem Zeitpunkt gab es ernsthaft die Bereitschaft Putins, Frieden in der Ukraine einkehren zu lassen. Russlands Führung bestreitet seit Jahren schlicht das staatliche Existenzrecht der Ukraine. Der ganze Rest ist perfide Propaganda: Die angeblich notwendige „Entnazifizierung“ der Ukraine ebenso wie die behauptete Aggression der NATO.

Putin hat das Szenario, dessen tägliche Zeitzeugen wir heute sind, seit Jahren sorgfältig aufgebaut. Deshalb ist auch der Satz, wir seien am 24. Februar 2022 „in einer anderen Welt aufgewacht“, so falsch. Wir sind genau in der Welt aufgewacht, die Putin seit Jahren wollte, die wir aber nicht wahrhaben wollten. In Deutschland ist die Reihe der Fehleinschätzungen und die daraus resultierende Serie an Fehlern besonders lang: Die Friedensdividende nach der Wiedervereinigung fiel nirgendwo so großzügig aus wie bei uns. Der Preis ist eine in großen Teilen dysfunktionale Armee. Der Ausstieg aus der Kernenergie folgte einem Ereignis, das in keinem Zusammenhang mit der Sicherheit unserer Kraftwerke stand. Dafür wurde eine immer größere Abhängigkeit von russischem Gas für die Stromerzeugung in Kauf genommen. Nordstream 2 war niemals ein „rein privatwirtschaftliches“ Projekt, im Gegenteil, diese Pipeline war das letzte politische Puzzleteil in einem Spiel, das Europa spalten und die Abhängigkeit für uns noch einmal vergrößern sollte. Die Pipeline ist „der Zement der neuen Mauer durch Europa“, wie Präsident Selenskyi vor zwei Wochen vor dem Deutschen Bundestag zum Ausdruck brachte.

Am schwersten aller Fehler wiegt die Ablehnung des Gesuchs der Ukraine, sie in die NATO aufzunehmen. Aus lauter Angst vor Putin und seiner Drohkulisse wollten vor allem Deutschland und Frankreich ihn nicht „provozieren“. Aber seit dem 24. Februar wissen wir, worum es wirklich geht: Er hat uns über Jahre in die Irre und an der Nase herumgeführt, begleitet von einem Netzwerk deutscher Unternehmer und Politiker, die ihren Verstand dem Geldverdienen untergeordnet haben, bis hin zu einem ehemaligen Bundeskanzler, der in diesen Tagen den letzten Rest seines Anstandes verliert. Putin dagegen zeigt uns nicht zum ersten Mal sein wahres Gesicht: nämlich das eines vollkommen skrupellosen Mannes, der in Tschetschenien und Syrien Terrorkriege gegen die Zivilbevölkerung führt und der seit langem an der Wiederherstellung eines russischen Reiches arbeitet. Er hat unsere Schwächen mit herbeigeführt und sie immer richtig eingeschätzt. Jetzt sieht er die Zeit gekommen, die politische Landkarte Europas grundlegend und dauerhaft zu verändern. Er findet zumindest stillschweigende Unterstützung bei der chinesischen Staatsführung, die sich in diesen Wochen sehr genau anschaut, wie die Welt auf Putin reagiert und ob China ein neues Preisschild für Taiwan schreiben muss. Eine „Zeitenwende“ findet nicht nur in Europa statt.
Haben wir eine noch eine Chance, aus diesem Teufelskreis auszubrechen? Ja, eine solche Chance haben wir. Es ist nie zu spät. Es kann immer noch eine Lösung geben. Auch wenn es eine große Zahl von Opfern schon gegeben hat, die bei kluger Voraussicht vermeidbar gewesen wären.

Die entscheidende Voraussicht von heute muss lauten: Putin wird weitermachen, wenn wir ihn nicht stoppen. Die Ukraine ist nicht sein letztes Ziel. Zu Beginn des Krieges haben wir die russische Armee überschätzt. Jetzt besteht die Gefahr, dass wir sie unterschätzen. Die Eskalationsdominanz liegt bei Putin. Aber davor dürfen wir keine Angst haben. Im Gegenteil, die Ukraine muss weiter mit Waffen beliefert werden, und zwar auch von uns. Das sind wir einfach dem Land und den Menschen in der Ukraine schuldig. Die anfänglich zögerliche Haltung Deutschlands bei Waffenlieferungen wie bei SWIFT war unverständlich. Sie hat uns zu Recht viel Kritik eingetragen.

Nun definiert die Bundesregierung angesichts des Krieges unsere Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit von Grund auf neu. Dabei spielt Geld eine wichtige, aber bei weitem nicht die wichtigste Rolle. Es geht vor allem um einen Bewusstseins- und Mentalitätswandel in unserer Gesellschaft. Diplomatie bleibt das wichtigste Instrument der Außenpolitik, glaubwürdig wird Diplomatie aber nur mit militärischen Fähigkeiten. Abschreckung ist und bleibt auch in Zukunft das wichtigste Instrument der Verteidigung. Und für den Frieden und die Freiheit müssen wir auch wirklich eintreten wollen, zur Not müssen wir dafür kämpfen, gegen die Bedrohung von außen, aber ebenso gegen die zerstörerische Kraft der Desinformation und der Leugnung von Tatsachen im Innern. Vielleicht schafft eine SPD-geführte Bundesregierung diese Modernisierung und Anpassung unserer Streitkräfte an die Realität besonders gut, wenn sie denn nicht – wie Helmut Schmidt vor vierzig Jahren – an der eigenen Partei scheitert.

Der Weg heraus aus der Energieabhängigkeit von Russland wird ebenfalls beschwerlich, vor allem: Er ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Schon morgen könnte Putin die Lieferungen stoppen, und wir diskutieren in ganz Europa intensiv, ob wir nicht von uns aus Nein sagen müssten zur weiteren Finanzierung dieses Krieges. Wir alle befinden uns in einem tiefen ethischen und moralischen Dilemma. Zumindest der Verzicht auf Öl und Kohle aus Russland scheint machbar, Zölle auf das Gas könnten ein weiterer Schritt sein. In jedem Fall wird der Energiebedarf unseres Landes und die gleichzeitig notwendige Dekarbonisierung unserer Volkswirtschaft zur größten innenpolitischen Herausforderung nach diesem Krieg. Der Ausstieg aus den fossilen Energieträgern erfährt eine rasante Beschleunigung, die es zu nutzen gilt, ohne Scheuklappen, mit wirklich allen technischen Optionen und nicht zuletzt mit der seit langem überfälligen Überwindung unserer so furchtbar lähmenden Bürokratie.

Die Schaffung einer europäischen Energiepolitik wird eine besonders wichtige Aufgabe sein. Wir brauchen nicht nur die Energieerzeugung aus allen noch verfügbaren Energiequellen, wir brauchen vor allem ein europäisches Verteilnetz für Strom, Öl, Gas und Wasserstoff. Europa muss mit den Maghreb-Staaten eine Wasserstoff-Allianz bilden, die seit Jahren verschleppten Flüssiggas/LNG-Terminals in Brunsbüttel, Wilhelmshafen und Stade müssen jetzt schnell gebaut werden. Ohne eine grundlegende Korrektur unserer Planungs- und Genehmigungsverfahren wird das nicht gehen. Wenn Deutschland in der Energiepolitik so handelt wie in der Verkehrspolitik der großen europäischen Eisenbahnnetze, dann wird die europäische Energiepolitik an uns Schaden nehmen.

Wird der „Realitätsschock“, den wir durch Putins Krieg erleben, heilsame Wirkung entfalten? Die Einsicht in die Fakten allein wird dafür nicht reichen. Wir brauchen jetzt Mut in der Politik, auch den Mut, unbequeme Wahrheiten auszusprechen, und das Land und die Bevölkerung auf eine große Kraftanstrengung vorzubereiten. Die Zeitenwende-Rede des Bundeskanzlers war ein Anfang, aber die Anstrengungen müssen weiter reichen. Die Prioritäten der deutschen und europäischen Politik müssen neu geordnet werden. Es wird nicht ohne Einschränkungen gehen, um an anderer Stelle wichtige Voraussetzungen für unsere Sicherheit im umfassenden Sinne zu schaffen.

Und danach? Wenn dieser Krieg hinter uns liegt? Russland wird sich zunächst selbst von Putin befreien müssen. Danach müssen wir dem russischen Volk und einer legitimen Regierung die Hand zur Versöhnung reichen, so, wie die Westalliierten Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg die Hand zur Versöhnung gereicht haben. Aus dieser Versöhnung ist die längste Zeit des Friedens und der Freiheit geworden in dem Teil der Welt, in dem wir heute das große Glück haben zu leben.

Der Gastbeitrag von Friedrich Merz ist am 31. März 2022 in „Die Zeit“ erschienen.