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Paul Ziemiak: Der Mut zur Freiheit hat gesiegt
Wenn wir an den 3. Oktober 1990 denken, erinnern wir uns an den 9. November 1989, an die historische Nacht, in der sich nach 28 Jahren endlich die Berliner Mauer geöffnet hat. Damals eine Weltsensation – und ein Gänsehautmoment noch heute. Wenn ich an den Tag der Deutschen Einheit denke, kommt bei mir der 4. Juni 1989 hinzu, ein Frühlingssonntag, an dem die Polen zum ersten Mal eine – halbwegs – demokratische Wahl hatten. Jeder dritte Sitz im Parlament wurden in freier Wahl vergeben – und alle gingen an die Opposition. [Solidarność] Dieser Schrei nach Freiheit wurde überall gehört, auch in der DDR.
Für mich, den Vierjährigen, kam diese Wahl viel zu früh, um sie zu begreifen. Für meine Eltern zu spät, um selbst in ihrer Heimat daran teilzunehmen. Sie hatten 1988 mit meinem Bruder und mir Polen verlassen. Als unser Geburtsland die Freiheit wählte – so viel Freiheit, wie sie durfte –, bezog meine Familie die erste Unterkunft in Iserlohn.
Für weltweite Schlagzeilen sorgte an diesem 4. Juni 1989 aber nicht die polnische Parlamentswahl, sondern ein anderes, ein furchtbares Ereignis: das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Die Aktuelle Kamera im DDR-Staatsfernsehen vermeldete es übrigens unter der Überschrift „Truppeneinsatz“ auf besonders makabre Weise: „Einheiten der chinesischen Volksbefreiungsarmee haben in der vergangenen Nacht den Tian'anmen- Platz in Peking geräumt (...), weil Konterrevolutionäre den Sturz der sozialistischen Ordnung beabsichtigt haben.“
Diese sozialistische Ordnung war bald darauf Geschichte – nicht in China, aber in Polen, genauso wie in der DDR und vielen anderen Staaten Osteuropas. Der Mut hatte gesiegt.
Wenn wir heute auf drei Jahrzehnte Deutschland einig Vaterland schauen, dann erkennen wir auch: Dem ersten heldenhaften Mut zur Freiheit folgte bald ein zweiter in Freiheit. Der Zusammenbruch der DDR bedeutete ein Umgekrempelt werden in praktisch allen Lebenslagen. Veränderungen, so unvorstellbar groß und umfassend. Manchmal fast zu viel. Diese Situation zu meistern erforderte einen ebenso großen Mut. Millionen Menschen in den neuen Ländern brachten ihn auf. Diesem zweiten Mut verdanken wir, dass die Deutsche Einheit trotz mancher Missverständnisse und Fehler eine deutsche Erfolgsgeschichte geworden ist.
Zehn Jahre später wurde ich Mitglied der Jugendorganisation von CDU und CSU. Warum? Auf diese Frage gibt es so viele Antworten, so viele richtige und gute. Eine dieser Antworten ist auch: Weil es die CDU war, die immer am Glauben an die Einheit unserer Nation festgehalten hat. „Wir werden nicht ruhen und wir werden nicht rasten, bis ganz Deutschland wieder vereint ist in Frieden und Freiheit“, sagte Konrad Adenauer im Juni 1953, als sich die Menschen in der DDR erstmals in großer Zahl mit heldenhaftem Mut gegen die sozialistische Unfreiheit auflehnten – und viele diesen Mut mit ihrem Leben bezahlten. Und es war auch die CDU, die seinen Schwur einlöste, als sich die Chance bot, die bittere Teilung endlich zu überwinden. Es ist diese Haltung vom ersten bis zum sechsten Bundeskanzler, von Konrad Adenauer bis zu Helmut Kohl, die mich mit Stolz erfüllt. Stellvertretend für alle Christdemokratinnen und Christdemokraten waren es zwei Männer, die am Verbindenden festhielten und eine Nation sahen, während so viele andere nur das Trennende und zwei Staaten sehen wollten. Wer sich jedoch mit der Zweistaatlichkeit arrangierte, der verschloss die Augen vor der Unfreiheit hinter der Mauer, den Schikanen, vor einem undemokratischen System.
Der große Historiker Heinrich August Winkler hat daran erinnert, dass mit dem 3. Oktober 1990 die Antwort auf gleich zwei Jahrhundertprobleme gegeben wurde: „Denn die deutsche Frage ließ sich nur zusammen mit einer anderen lösen – der polnischen, die seit den Teilungen im 18. Jahrhundert Europa immer wieder beschäftigt hat.“ Das Land, in dem ich geboren bin, und das Land, das meine Heimat geworden ist, sind heute Teil eines freien und demokratischen Europas. Kann Geschichte einen schöneren Verlauf nehmen?
Nur: Gut 1000 Kilometer entfernt von Berlin, keine 550 Kilometer entfernt von Warschau sehen wir eine heute ganz andere Geschichte. In Belarus verweigert das Lukaschenko-Regime den Menschen seit zweieinhalb Jahrzehnten ein Leben in Frieden, Freiheit und Demokratie. Friedliche Frauen und Männer werden eingesperrt und gefoltert, weil sie sich mit heldenhaftem Mut gegen ein autoritäres System auflehnen. Wir Christdemokratinnen und Christdemokraten stehen auch jetzt wieder an der Seite der mutigen Menschen. Nicht ruhen und nicht rasten, bis sie ihren Traum erfüllt haben – das ist unsere Haltung.